«Die heutige Jugend ist von Grund auf verdorben, sie ist böse, gottlos und faul. Sie wird niemals so sein wie die Jugend vorher, und es wird ihr niemals gelingen, unsere Kultur zu erhalten.»
Anonym aus dem alten BabylonThun, Januar 2011 – etwa 3000 Jahre nachdem diese Worte von einem Babylonier oder einer Babylonierin niedergeschrieben wurden.
Meine Freundin und ich sitzen im Bus zur Sporthalle. Neben uns stehen zwei jüngere Mädchen, deren Haare rabenschwarz gefärbt und mit rosaroten Strähnchen aufgepeppt sind. Die Augen haben sie sich stark geschminkt und ihr Outfit besteht aus Minirock, Leggings sowie Stiefeln.
Lautstark unterhalten sie sich miteinander, lachen über anscheinend dumme Klassenkameraden und schwärmen von «fetten Parties». Ihre Unterhaltung übertönt alle anderen Gespräche im Bus, darunter dasjenige von zwei älteren Damen, die neben uns sitzen.
«Die heutige Jugend weiss einfach nicht mehr, was sich gehört. Wir hätten uns nie so unschicklich verhalten. Früher wussten die Jugendlichen eben noch, was respektvolles und anständiges Benehmen bedeutet.» Mit diesen Worten wendet sich eine der Damen kopfschüttelnd an ihre Freundin.
Von wem auch immer die oben zitierten Zeilen aus dem alten Babylonien stammen, es scheint auch 3000 Jahre später noch einen gewissen Bezug zur Gegenwart zu haben.
Alles Prügler und Vandalen?
«Die heutige Jugend ist verdorben, sie ist böse, gottlos und faul.»
Wer heute regelmässig Nachrichtensendungen schaut und Zeitungen liest, könnte zu diesem Schluss kommen.
Jugendliche, die auf einer Klassenfahrt nach Berlin ein junges Pärchen überfallen.
Jugendliche, die in der Bahn einen Mann verprügeln, weil er sie gebeten hat, etwas leiser zu sein.
Jugendliche, die nach einem Stadtfest randalieren gehen. Solche Vorfälle scheinen sich in der letzten Zeit zu häufen.
So verwundert es auch nicht, dass bei einigen Menschen der Eindruck erweckt wird, die Jugend sei auf dem absteigenden Ast.
Besonders erschütternd erscheint dabei wohl die Tatsache, dass sich solche gewalttätigen Handlungen durch alle sozialen Schichten ziehen. Es sind nicht nur in der Gesellschaft etwas abseits stehende, benachteiligte Jugendliche, die sich prügeln.
Nein, es sind auch Gymnasiasten. Kein Wunder, denn die Gymnasiasten sind ja auch nicht mehr das, was sie einst waren, so die weit verbreitete Meinung: Die schulischen Leistungen an den Gymnasien nähmen tendenziell ab, weil die Schüler fauler seien und vor dem Computer sässen, anstatt ihre Hausaufgaben zu erledigen.
Eine Frage der Perspektive
Bei all diesen negativen Meldungen über die Jugendlichen darf man aber eines nicht vergessen:
Die prügelnden, randalierenden Jugendlichen sind noch immer eine klare Minderheit. Von der Mehrheit wird einfach nicht gesprochen.
Oder berichten die Medien etwa über junge Menschen, die in Altersheimen, Pflegezentren oder Kindertagesstätten arbeiten und sich dort liebevoll um alte oder junge Menschen kümmern?
Lesen wir oft von Jugendlichen, die sich aktiv für Hilfsorganisationen wie zum Beispiel «Amnesty International» einsetzen?
Oder hören wir von Jugendlichen, die tagtäglich zur Schule gehen, ihre Hausaufgaben erledigen und sich danach mit Freunden zum Fussballspielen, Kochen oder Filmeschauen verabreden?
Die schlechten Eindrücke sind oft so stark, dass sie die guten zu überschatten wissen, auch wenn diese eigentlich überwiegen würden. Bestimmt waren es schon vor 3000 Jahren einige wenige Jugendliche, die den Ruf der ganzen Jugend zu ruinieren drohten und so die bereits mehrfach zitierten, verachtenden Worte herbeiführten.
Glücklicherweise gibt es aber auch heute Menschen der älteren Generation, die in uns Jugendlichen keine bösen, gottlosen, verdorbenen und faulen Menschen sehen, sondern solche, die vielleicht sogar mutiger, engagierter und gesellschaftskritischer sind als sie es einst waren.
Die Kultur der Kulturbanausen?
«Die heutige Jungend wird niemals so sein wie die Jugend vorher, und es wird niemals gelingen, unsere Kultur zu erhalten.»
Wenn ältere Generationen Angst davor haben, dass ihre jungen Nachfahren sich nicht mehr an den gleichen Werten orientieren werden und ihre Kultur nicht zu erhalten wissen, ist dies verständlich.
Die heutigen Jugendlichen klingeln nicht mehr bei den Nachbarn, um zu fragen, ob man denn nicht gemeinsam etwas unternehmen möchte. Sie greifen zum Handy, schreiben eine Mail oder loggen sich bei Facebook ein. Anstatt sich von Angesicht zu Angesicht mit ihren Mitmenschen zu unterhalten, «smsen», «chatten» und «skypen» sie. Verliebte schreiben sich keine Liebesbriefe mehr sondern posten auf Facebook die Worte «I love you»
Eine Frage der Definition
Bei all diesen eben genannten Entwicklungen geht doch tatsächlich unsere Kultur verloren, oder? Die Frage ist dabei, was wir und was sich die Babylonier vor 3000 Jahren unter Kultur vorgestellt haben.
Sind dies Sitten, Bräuche, Traditionen und Lebensweisen, mag es stimmen, dass sie verloren geht. Nämlich dann, wenn letztgenannte nicht mehr mit dem Geist der Zeit vereinbar sind. Grundlegende Werte hingegen bleiben von der Jugend auch heute weitgehend erhalten.
Die zwischenmenschlichen Beziehungen werden, wenn auch auf etwas andere Art, gepflegt, es wird einander geholfen und die Menschen arbeiten, um etwas zu erreichen.
Zeiten des Wandels
Menschen und Kultur verändern sich unweigerlich. Ständig werden neue Technologien entwickelt und neue Erkenntnisse erlangt. Wie sich die Welt verändert, so verändern sich die Jugendlichen mit ihr. Eine Anpassung an die neuen Umstände muss ja stattfinden. Kultur geht nicht verloren, sie verändert sich. Bestimmte Bestandteile bleiben dabei aber immer erhalten. Schon vor 3000 Jahren kam es der älteren Generation so vor, als würden die Jugendlichen immer unanständiger, frecher und respektloser werden. Wahrscheinlich werde auch ich später hin und wieder das Gefühl haben, dass ich eine bessere Jugendliche war. Dabei waren wir doch bestimmt genauso verdorben, lieb, unanständig und respektvoll wie die Generation nach uns.
Ein Blick zurück
Diesen Text habe ich vor drei Jahren am Gymnasium geschrieben und noch immer scheint er einen Bezug zur Aktualität zu haben, auch wenn sich seither schon vieles verändert hat.
In der Zwischenzeit sind mir die Worte «Wir waren die viel anständigeren Jugendlichen!» auch schon einige Male herausgerutscht und ich kann es mir überhaupt nicht vorstellen, dass meine Kinder einmal nicht mehr täglich draussen spielen , sondern wohl auch lieber vor dem Computer oder dem Smartphone sitzen und «gamen» werden – wenn ich ihnen das denn erlaube.
Die wichtigere Veränderung ist aber eine andere: UND ist entstanden.
Endlich wird nun über ganz normale Jugendliche berichtet, die eigentlich ganz gut mit den Alten auskommen und so verdorben auch gar nicht sind.
Und über Alte, die ganz schön viel «Drive» haben, sich von den Jungen zu so mancher spassigen Aktion überreden lassen oder sie in ihre Welt entführen, die so langweilig eigentlich gar nicht ist.