«In Istanbul, einer vom Meer umgebenen Stadt, habe ich Menschen getroffen, die es noch nie gesehen hatten. Ich habe sie gefilmt, als sie es zum ersten Mal gesehen haben.»
Sophie Calle
Meeresrauschen. Im grossen Saal stehen fünf breite Leinwände. Auf jeder ist ein Mensch zu sehen, mit dem Rücken gegen den Zuschauer. Sie blicken aufs Meer hinaus, auf die heranrauschenden Wellen. Lange verharren sie so, dann dreht sich ein Mann um und schaut uns an, danach eine der Frauen. Nach und nach sehen alle zu uns hin und eine Person nach der andern verschwindet. Sie sind BewohnerInnen von Istanbul, einer Stadt, die quasi vom Meer umspült ist. Trotzdem hat bisher niemand von ihnen das Meer gesehen. Sophie Calle filmte ihr erstes Mal.
Die am 9. Oktober 1953 in Paris geborene Künstlerin erzählt Geschichten anhand von Fotografien, kombiniert mit dem geschriebenen Wort. Etwa schildert sie minutiös, wie sie in Paris einen Mann trifft, ihm kurz folgt und ihn aus den Augen verliert. Zu ihrer Überraschung wird ihr am Abend dieser Mann an einem Empfang vorgestellt. Er erzählt ihr, dass er nach Venedig verreisen will. Für sie ist sofort klar, dass sie ihm dorthin folgen wird. Sie will sich an seine Fersen heften und ihn fotografieren. Sie weiss aber nicht, wo er logiert. So verbringt sie viele Stunden in bitterer Kälte, um ihn vor die Linse zu kriegen. Erst nach einer Woche gelingt es ihr, ihn ein erstes Mal zu fotografieren. Als er bemerkt, dass sie ihn von vorne ablichten will, verdeckt er das Gesicht mit den Händen und sagt, das sei kein Spiel. Natürlich sei hier nicht alles verraten. Die Texte zu den Fotos sind umfangreich. Es lohnt sich, Zeit einzuplanen.
Sophie Calle beschäftigt sich eingehend mit Fehlendem, Zerstörtem. So auch in einer Ausstellung in einem anderen Museum mit einem Bild, das die Exekution von Major Davel darstellte, ein riesiges Gemälde. Es fiel einem Brandanschlag zum Opfer, aber nicht vollständig. Auf einer Ecke, die übrig geblieben ist, ein weinender Soldat, der die Hände vor das Gesicht hält. Im nächsten Saal Aufnahmen von Stellwänden mit leeren Haken, an denen Bilder grosser Künstler gehangen hatten, bevor sie geraubt wurden. Oder Aufnahmen von leeren Rahmen, aus denen Bilder herausgeschnitten worden waren, die man aber wieder aufhängte, einfach vor ein grosses Stück Stoff. Sophie Calle liess sich jeweils von Museumsangestellten erzählen, was sie über diese Bilder wussten. Beim Lesen dieser Schilderungen soll vor dem inneren Auge wieder ein Bild entstehen. Ein Beispiel für Konzeptionskunst ist eine Reihe von Porträts. Sophie Calle suchte in Istanbul erblindete Personen. Viele von ihnen erblindeten plötzlich. Entweder als Folge eines Unfalls oder durch Gewalteinwirkung. Einige verloren ihr Augenlicht wegen Krankheiten oder Fehlbehandlungen. Sophie Calle bat sie, ihr ihren letzten Eindruck, das, was sie als Letztes gesehen hatten, zu schildern. Dann versuchte die Künstlerin, es bildlich darzustellen. Inwiefern nun das Kunstbild mit dem Erinnerungsbild der Blinden übereinstimmt, wird wohl immer unsicher (incertain) bleiben!
Unsicher bewegten sich wohl auch die beiden Böcke, deren Köpfe im letzten Saal an der Wand hängen. Wie konnten sie sich mit diesem Gewirr von Hornwindungen vor ihren Augen zurechtfinden?
Die Ausstellung im Kunstmuseum Thun dauert noch
bis am 1. Dezember 2019.