Der Bücherherbst steht vor der Tür, die Auswahl an Neuerscheinungen ist riesig und wir beiden Bücherfrauen können uns nicht auf einen einzigen Titel einigen. Die zwei neuen Bücher, die wir beide gelesen haben, enthalten aber nicht bloss je eine einzige Geschichte. Damit sind es nicht bloss Empfehlungen für ausgefuchste Vielleser, sondern günstige Angebote für Sparfüchse, die auch gerne lesen, denn hier bekommt man etwas fürs Geld! Ein Buch und zehn Lebensgeschichten (Simone Lappert) oder ein Buch («Drei»), in dem drei Geschichten zu einer einzigen verwoben sind. Tönt magisch und erinnert irgendwie ans «Hexeneinmaleins». Gelegenheit, auch dieses wieder einmal nachzulesen.
Ausgelesen – die Rubrik: Wir (Marlene und Heidi) sind zwei Frauen in verschiedenem Alter, die mit und von Büchern leben. Diese Chance, unsere Ideen zusammenzutragen, wollen wir uns nicht entgehen lassen: Junge und Alte gleichzeitig ansprechen, auf Bücher aufmerksam machen, die das Potential haben, beide Generationen zu bereichern. Unser Ziel ist natürlich vor allem, zum Lesen zu animieren und mit kontroversen Besprechungen oder gemeinsamer Begeisterung die Neugier neuer Leser wecken.
«Du musst verstehn! aus Eins mach’ Zehn»
Simone Lappert: «Der Sprung», Diogenes, 2019.
Marlene: Als ich diesen Titel in der Vorschau entdeckte, in der die Neuheiten vorgestellt werden, freute ich mich sehr, denn Simone Lapperts «Wurfschatten» hatte ich geradezu verschlungen. Mit «Der Sprung» ist ihr ein stimmiges Buch gelungen. Die junge Frau Manu steht in Gärtnerbekleidung auf dem Dach eines Hochhauses und hält stundenlang die Einheimischen in Atem: Springt sie, oder springt sie nicht? Besonders für sieben Menschen, die auf unterschiedliche Arten mit Manu zu tun haben, steht die Zeit still. Auch diese Personen dürfen wir während der Lektüre eine Zeitlang begleiten und etwas über ihre Geschichten erfahren. Nach dem Beenden des Buches fragt man sich: Wie viele Schicksale auf dieser Welt gibt es, von denen wir nichts wissen, und an denen wir einfach vorbeigehen, nichtsahnend? Wie viele Menschen verurteilen wir tagtäglich, ohne sie zu kennen – wer sie sind und was für eine Geschichte sie haben? Ein wichtiges Buch mit einer noch wichtigeren Botschaft.
Die – auf eine Art filmische – Erzählform lässt Personen und Situationen ungemein plastisch erscheinen
Heidi
Heidi: Die vielfach preisgekrönte Schweizer Autorin führt uns vor, wie viel sich während so weniger Stunden ereignen und einschneidend ändern kann. Sie teilt die mit der jungen Frau verknüpften Schicksale – das sind viele und allesamt furchtbar tragisch – in kleine Szenen auf, beleuchtet von allen Seiten und arrangiert sie rund um die sich zuspitzende Situation auf dem Hausdach. Diese – auf eine Art filmische – Erzählform lässt Personen und Situationen ungemein plastisch erscheinen, ohne auf allzu viele Einzelheiten einzugehen. Doch sie ist – zumindest für mich – anstrengend (wer war denn nun gleich Egon, wer Theres?), zudem eher effekthascherisch als wirklich notwendig für ein gutes Buch.
«Und Zwei lass gehn, Und Drei mach’ gleich»
Dror Mishani: «Drei», Diogenes, 2019
Heidi: Mishani ist vor allem durch seine gelungene Krimiserie um Inspektor Avi Avraham bekannt. Mit dem Einzelthriller «Drei» katapultiert sich der Autor in eine ungleich anspruchsvollere Liga: Es handelt sich hier um einen minutiös komponierten Roman in drei Teilen, in dem es um drei Frauen geht, die aus unterschiedlichen Gründen an den gleichen gefährlichen Mann geraten. Im ersten Teil werden alle Ingredienzen ausgelegt, die im zweiten und dritten Teil aufgenommen, neu arrangiert und schliesslich zum zwar völlig überraschenden, doch folgerichtigen Ende zusammengefügt werden. Anstelle einer fortlaufenden Erzählung reiht Mishani oft einzelne wichtige Szenen aneinander. Damit fühlt man sich als Teil der Geschichte. Die drei Frauen und der eine wichtige Mann bekommen Farbe und Leben durch die stimmigen Dialoge und Handlungen. Psychologisch überzeugend, spannend – und als tolle Zugabe gibt’s ein Stimmungsbild aus dem aktuellen Tel Aviv. Hier ist endlich die würdige Nachfolge für die leider viel zu früh verstorbene Batya Gur gefunden. Meine Empfehlung gemäss Hexeneinmaleins: «So bist du reich»!
Marlene: Schon der Klappentext hat mich sofort in seinen Bann gezogen: «Eine Frau sucht ein wenig Trost, nachdem ihr Mann sie und ihren Sohn verlassen hat. Eine zweite Frau sucht nach einem Zuhause und nach einem Zeichen von Gott, dass sie auf dem richtigen Weg ist. Eine dritte Frau sucht etwas ganz anderes. Sie alle finden denselben Mann. Es gibt vieles, was sie nicht über ihn wissen, denn er sagt ihnen nicht die Wahrheit. Aber auch er weiß nicht alles über sie.». Gänsehaut! Ich kann mich Heidis Meinung voll und ganz anschliessen. Das Buch hat mich gepackt und nicht mehr losgelassen und hat mir den Job als Beifahrerin während der 4-stündigen Fahrt auf der italienischen Autobahn sehr versüsst – von mir aus hätte sie gut noch länger dauern können. Die drei verschiedenen Frauen mit ihren Bedürfnissen werden meiner Meinung nach sehr gut charakterisiert und die Leserschaft kann gut nachvollziehen, weshalb sie Halt, Sehnsucht und Liebe suchen – nur finden sie diese beim falschen Mann. Mehr möchte ich hier nicht verraten. Die einzige Schwachstelle: Die Figur von Gil blieb bis zum Schluss undurchsichtig mit seinem Handeln und Tun. Da hätte ich mir mehr Tiefe, mehr Charakter gewünscht.
Ausserdem gelesen
Heidi: Matthias Brandt: «Blackbird», Kiepenheuer & Witsch, 2019. Ein herzzerreissender Roman in Ich-Form aus den Jahren, als es noch D-Mark gab, der Plattenladen noch Jugendtreffpunkt war und Eltern noch seltener auseinander gingen: Motte verliert innert kurzer Zeit seinen Vater an eine Lebensgefährtin, seinen besten Freund an den Krebs und weiss dabei selbst oft kaum, wie überleben. Grossartig beschrieben ist dieses pubertäre Lavieren zwischen Coolness und Zerbrechlichkeit, dieses buchstäbliche Verstummen angesichts der Grausamkeit des Erwachsenenseins. Man weint mit Motte, träumt sich weg, erwacht mit ihm am Grab des toten Freundes. Ein tolles Buch!
Welche Wohltat ist dieses stille Debut!
Heidi
Saskia Luka: «Tag für Tag», Kein & Aber, 2019. In diesem kleinen, ungemein kraftvollen Roman, der ohne Sensationen auskommt, geht es um drei Frauen dreier Generationen und um die aktuelle Frage, wo ein Mensch seine Heimat hat. Maria, eine attraktive Künstlerin, ist als Jugendliche aus einem kargen kroatischen Dorf nach Bayern geflohen, hat da Georg getroffen und damit eine neue Heimat gefunden. Georg stirbt unerwartet, die Tochter Anna ist fast flügge. Maria holt Mutter Lucia zu sich unter dem Vorwand, die alten Tage seien in Deutschland komfortabler, doch eigentlich sehnt sich Maria nach Nestwärme und Heimat. Unspektakulär, ein Voranschreiten Tag für Tag – welche Wohltat ist dieses stille Debut!
Marlene: André Aciman: «Fünf Lieben lang», dtv, 2019. «Ruf mich bei deinem Namen» steht schon lange bei mir im Gestell mit den Lieblingsbüchern. Acimans Schreibstil berührt mich irgendwie ganz besonders – deshalb war das neue Buch für mich ein Muss. Auch bei diesem wurde ich nicht enttäuscht. Genau wie bei «Ruf mich bei deinem Namen» kommen die LeserInnen in den Genuss von Acimans literarischem Können – frei von jeglichem Kitsch. Paul führt uns als Hauptfigur durch das Buch, wobei er von unterschiedlichen Menschen, fünf an der Zahl, abschnittsweise begleitet wird. Hier ist gleichzeitig aber auch eine Schwäche des Buches: Sobald man sich richtig auf eine Geschichte eingelassen hat, war sie auch wieder fertig. Abgesehen davon hat die Hauptfigur so viel Tiefe und die fast krankhafte Begierde nach dem Suchen der einzig wahren Liebe wird so treffend und schonungslos beschrieben, dass es das schon wieder wettmacht.
Ein richtig schönes, gutes Sommerbuch.
Marlene
Paulo Giordano, „Den Himmel stürmen“, Rowohlt, 2018. Paulo Giordano erzählt eine Geschichte, welche sich über 20 Jahre hinzieht, von einem Mann und einer Frau, die sich immer wieder suchen und wieder verlieren. Teresa verbringt als kleines Mädchen den Sommer in einem Haus ihrer Familie in Apulien, wo sie viel Zeit mit den Nachbarsjungen Bern, Nicola und Tommaso verbringt. Nach einiger Zeit entwickelt sich zwischen Teresa und Bern eine zarte Liebesgeschichte. In einer kleinen Kommune leben sie im Einklang mit der Natur, wobei sie immer wieder anecken: In der Politik, mit den Nachbaren, der Gesellschaft überhaupt. Eine klassische Tragödie, welche Themen wie Aussteigen, Naturschutz, visionäre Lebensziele und Religion behandelt. Ein richtig schönes, gutes Sommerbuch.