Die Deckenleuchten der Garderobe sind ausgeschaltet, erhellt wird der Raum vom gedimmten Licht einer Staffeleilampe. Graziella Rossi hat sie extra für das Interview organisiert. An der Wand hängt ein imposantes Kostüm, das aus drei weissen Kleiderteilen besteht. «Einer der berühmtesten Designer der Schweiz hat mir das gewidmet», erzählt die Schauspielerin und meint damit Martin Leuthold. Aber dazu später mehr.
Für Graziella war immer klar, dass sie eines Tages als Schauspielerin tätig sein würde. Ihre Eltern waren etwas misstrauisch und wollten, dass sie zuerst etwas Anständiges studiert, damit sie «wenigstens unterrichten» könnte. Nach dem abgeschlossenen Sprach-Studium absolvierte sie die Schauspielakademie in Zürich sowie in Prag. Seit 1982 steht Graziella Rossi als Schauspielerin auf der Bühne. «Zuerst war ich oft in festen Häusern, zum Beispiel am Nationaltheater Berlin Potsdam», erinnert sie sich.
Als sie ihren Partner Helmut Vogel kennenlernte, der sich nach mehreren Jahren Schauspielerfahrung an festen Häusern für das freie Arbeiten entschieden hatte, schloss sie sich diesem Entscheid kurzerhand an. Und damit ist sie bis heute glücklich. Rossi bindet sich nicht mehr gerne, wenn es um ihr Spielen geht. «Wenn man einmal das Glück hat, sich aussuchen zu können was man machen will, dann will man das nicht mehr aufgeben.»
«Wenn man einmal das Glück hat, sich aussuchen zu können was man machen will, dann will man das nicht mehr aufgeben.»
Graziella Rossi
Bindungsscheu ist sie aber trotzdem nicht wie ihre Freundschaft zu ihrem langjährigen Techniker «Housi» beweist. Seit 40 Jahren sind die beiden zusammen unterwegs und haben so einiges durchgemacht. Sie erzählen von vielen Reisen und vielen Aufführungen bei denen nicht immer alles auf Anhieb klappte. Manchmal gab es nur einer Lichtquelle, waghalsige Elektroinstallationen oder ein Backstagebereich voller Menschen mit denen sie sich nicht verständigen konnten. Und dabei sind sie richtig rumgekommen. «32 Jahre lang habe ich jeden Sommer ein neues Stück in New York aufgeführt. Bin damit von Mississippi bis nach Washington aufgetreten», schwärmt die Weltenbummlerin. Da Rossi all ihre Monologe in Deutsch, Englisch oder Italienisch aufführen kann, bietet ein Theaterstück oft Stoff für viele Auftritte. In den letzten Jahren erweiterte Graziella Rossi ihr Spielgebiet bis nach Russland.
Und dann kam die Pandemie. Sie sitzt den Schauspielenden noch immer im Nacken. «Die Pandemie hat schon sehr viel verändert. Auslandspläne sind schlichtweg zusammengebrochen.» Viele grosse Aufführungen, die sie geplant hatte, konnten ganz kurzfristig nicht durchgeführt werden, abgeschlossene Verträge wurden nichtig. Die Folgen davon spürt die Schauspielerin bis heute. Auch deshalb steht Graziella jetzt wieder vermehrt auf Schweizer Bühnen.
So war sie kürzlich auch in der alten Oele in Thun anzutreffen, wo sie im Stück «Lydia» versucht, der Tochter von Alfred Escher eine Stimme zu geben. «Das Stück basiert auf einem Buch von Doktor Joseph Jung. Er ist sozusagen der Escher-Biograph», erklärt Rossi. Zusammen mit ihrem Partner widmete sich Graziella in der Pandemiezeit diesem Buch und entwickelte daraus das Stück, welches sie nun in verschiedensten Schweizer Orten auf die Bühne bringt.
«Jetzt erst recht.»
Graziella Rossi
Die eher tragische Figur der Lydia ist Graziella ans Herz gewachsen, wie sie selber zugibt: «Lydia war eine starke Frau, auch wenn sie ihre Fehler hatte.» Lydia Welti-Escher verlor früh ihre Mutter und jüngere Schwester, so blieb ihr nur noch ihr Vater. «Sie wurde die Ersatzbeziehung des Vaters, wurde praktisch Lebenspartnerin und Sekretärin.» Die belesene Lydia musste also schnell erwachsen werden. Als ihr Vater schliesslich starb, heiratete sie Friedrich Emil Welti und eine tragische Geschichte nahm ihren Lauf. Ein spannendes Leben von dem zu wenig gesprochen wird, wie Rossi findet. «Mich hat interessiert, wieso niemand diese Geschichte verfilmt oder auf die Bühne gebracht hat», erzählt sie und fügt an: «Plötzlich realisierte ich, dass man versucht diese Geschichte zu verschweigen, (…) weil so viele wichtige Menschen dabei eine Rolle gespielt haben.» Davon lässt sich die Schauspielerin aber nicht verunsichern, im Gegenteil, Graziella denkt sich: jetzt erst recht. Und so entsteht ein eindrückliches Stück ohne viel Tamtam.
«Normalerweise bin ich immer ganz schlicht angezogen, aber dieses Stück war die perfekte Gelegenheit, es schrie praktisch nach einem solchen Kostüm.»
Graziella Rossi
Bühnenbild gibt es keines. Die Requisiten passen in einen Koffer und eine Schubkarre, so kann Graziella mit ihrem Stück sogar per Zug reisen. Das Herzstück des Gepäcks aber ist das Kostüm. Es soll «Lydia» Leben einhauchen. Das Design wurde ihr gewidmet. Schon lange hatte ihr ihr Freund Martin Leuthold ein Kostüm versprochen. «Normalerweise bin ich immer ganz schlicht angezogen, aber dieses Stück war die perfekte Gelegenheit, es schrie praktisch nach einem solchen Kostüm.» Und tatsächlich, schlicht ist das Kleid nicht. Es nimmt Raum ein in der schummrig ausgeleuchteten Garderobe, sticht sofort ins Auge. Die Stoffe, wie Rossi verrät, wären unbezahlbar, aber sie wurden ihr gespendet oder geschenkt. Die Grösse des Netzwerks, das sich Rossi über die Jahre aufgebaut hat, ist eindrücklich. Und für sie ist noch lange kein Ende in Sicht. Themen, die sie gerne szenisch angehen möchte, hat sie noch einige. «Ich habe den Wunsch, dass es irgendwie so weitergeht.» Und bis jetzt stehen die Zeichen dafür gut.