Es war ein traumhafter Tag, als ich Silvia Wiesmann in Bern traf. Zusammen sassen wir auf einer Bank, vor uns die schneeweisse Bergkette.
Silvia Wiesmann, ausgebildete Pflegefachfrau mit dem Master in Somatic Psychology, setzt sich seit über 40 Jahren mit dem Thema «Achtsamkeit» auseinander. Seit 2007 führt sie MBSR-Kurse durch und seit etwa 10 Jahren leitet sie zusätzlich Fortbildungen über Achtsame Körperwahrnehmung und Emotionsregulation für Fachpersonen, wie ChefärztInnen, ErnährungsberaterInnen, PädagogInnen und TherapeutInnen.
«Die Achtsamkeit hilft, ehrlicher mit uns selber zu sein.»
Silvia Wiesmann
Als Silvia Wiesmann 20 war, begegnete sie einem buddhistischen Meditationslehrer. Erst war sie skeptisch gegenüber Religionen und Glaubensrichtungen. Aber aus seiner Lehre hat sie Effekte gespürt und deshalb weiter geübt und schliesslich das Studium zur Körperwahrnehmungs-Therapeutin in Amerika absolviert. «Hat man erst einmal damit angefangen, ist es schwer, nicht mehr achtsam zu sein.» Das kann ich nur bestätigen.
Achtsamkeit ist für Silvia Wiesmann keine Technik, sondern eine Einstellung: offen, interessiert und möglichst nicht verurteilend zu sein. Achtsamkeit ist der Boden von einem ethischen, sinnvollen, mitfühlenden und glücklichen Leben und beruht darauf, sich selber bewusst wahrzunehmen, wie man sich fühlt, was gerade in seinem Inneren vorgeht, und bei sich und seinem Körper zu bleiben.
Wenn sich die Menschen, die mürrisch oder angestrengt wirken, bewusst wären, welche Auswirkung Achtsamkeit auf Mitmenschen hat, würden diese vielleicht auch bewusster ihre Umgebung und sich selber wahrnehmen. Die Aussage, «Ohne Achtsamkeit und Bewusstsein, kannst du nichts wählen. Da du einfach in deinem Film bleibst», hat mich persönlich berührt. Oft bin ich selber in mir gefangen und nehme nicht wahr, was um mich herum passiert.
Die TeilnehmerInnen an MBSR-Kursen sind zwischen 20 und 80 Jahre alt. Die meisten besuchen die Kurse wegen Leidensdrucks, Stress, psychischen oder physischen Gesundheitsproblemen. Es ist wichtig, sich Zeit zum Lernen zu nehmen, auch wenn es nur 10 Minuten im Tag sind.
«Du kannst stundenlang über Achtsamkeit reden. Aber es ist wie bei Zucker: Wenn du ihn noch nie probiert hast, weisst du nicht wirklich, wie er schmeckt.»
Silvia Wiesmann schlägt vor, vor dem Aufstehen eine Minute innezuhalten und die Absicht zu haben, den Tag achtsamer zu leben. So gut es geht, ohne sich einen Druck aufzubauen. Bereits eine solche Formulierung gibt ein anderes Gefühl und einen motivierten Start in den Tag. Eine weitere einfache Übung für mehr Achtsamkeit im Alltag sei: «Überall da, wo wir warten müssen, ist es super, aufmerksam zu sein. Wir atmen die ganze Zeit; dabei einfach mal den eigenen Atem beobachten und nichts anderes machen.»
Für Menschen, die sich schon länger in Achtsamkeit üben, ist die Wahrnehmung, der Kontakt des Bodens mit den Füssen, ein hilfreiches Mittel, um sich zu beruhigen. Die Erwartung jedoch, bereits nach kurzer Zeit, achtsam genug und gewappnet für Stresssituationen zu sein, sei absurd. Silvia Wiesmann empfiehlt in solchen Momenten, sich zurückzuziehen, den Raum zu verlassen und erst danach eine Übung, zum Beispiel auf den eigenen Atem achten, durchzuführen. Die Achtsamkeit hilft, ehrlicher mit uns selber zu sein sein und vorgängig zu erkennen, wann es zu einer Stresssituation kommt.
Nicht fehlen darf bei allem der Humor und die Fähigkeit, über sich selbst lachen zu können. Die Glückshormone (Endorphine), die dabei produziert werden, können wir alle gut gebrauchen.
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