Das neue «Ich»
Mein Leben änderte sich im Sommer 2015 abrupt. Ich wurde von einer mehrheitlich gesunden Person, die hin und wieder an Migräneattacken und Kopfweh litt, zur kranken Person, die ständig Kopf-, Nacken- oder Rückenschmerzen hatte. Was machst du, wenn dein altes «Ich» plötzlich verloren scheint und du jeden Tag Schmerzen erleidest? Intuitiv entschied ich mich damals für den Kampf gegen die Kopfschmerzen und gegen das neue «Ich». Das war nicht ich. Ich war doch lebensfroh, unternehmungslustig und offen. Dieses neue, schmerzende, zurückgezogene «Ich», das wollte ich nicht sein. Ich war doch jung und sollte gesund und energiegeladen sein. Ich schämte mich für meine Schmerzen und behielt sie, abgesehen von meinem engsten Umfeld, für mich. Rückblickend kann ich sagen, dass ich monate-, ja fast jahrelang meine Krankheit ablehnte und damit stark gegen mich selbst gearbeitet habe. Denn wie sollst du zufrieden sein können, wenn du dich selbst nicht so willst, wie du gerade bist? Die Erkenntnis, die Kopfschmerzen anzunehmen, sie als einen momentanen Teil von mir zu akzeptieren, kam erst einige Zeit und viele Therapien später. Ich begriff, dass ich mich so annehmen musste, wie ich momentan war: Eine Mittzwanzigerin, mit mal schwächeren, mal stärkeren, aber fast dauernd anhaltenden Kopfschmerzen. Es dauerte lange, bis ich merkte, dass mein altes «Ich» nicht weg war. Es war einfach ergänzt mit dem neuen, schmerzenden und ruhigeren «Ich». So habe ich gelernt, nebst den vielen schwierigen Momenten auch viele schöne Momente zu leben und den neuen Charaktereigenschaften positive Seiten abzugewinnen. Ich versuche auf meinen Körper zu hören und ihm die Ruhe zu gewähren, die er braucht. Ich glaube, ich bin auf dem Weg zur Heilung. Heilung bedeutet für mich momentan nicht, schmerzfrei zu sein, auch wenn das das Endziel ist. Es meint in meinem Fall, Lebensfreude und -energie zu haben. Diesen Text zu schreiben fühlt sich heilend an. Meine Entwicklung im Umgang mit den Kopfschmerzen zu sehen, tut gut und gibt Kraft für besonders schmerzintensive Zeiten. Noch vor ein paar Jahren hätte ich niemals so offen über meine Krankheit gesprochen. Zu gross waren die Scham und die Angst vor Ablehnung.
Hilfreiche Strategien
Mit der Zeit sind die Schmerzen Alltag geworden. Ich habe gelernt und lerne immer noch, meine Energie einzuteilen. Ich bin ein «Spoonie» geworden. Dieser Begriff, geprägt von der an Lupus leidenden Bloggerin Christine Miserandino, beschreibt den täglichen Umgang mit chronischen Schmerzen. Gemäss der Spoon Theory (Englisch für «Löffel-Theorie») haben Menschen mit chronischen Schmerzen eine Anzahl Löffel zur Verfügung, die für ihre Energiereserven stehen. Alles kann Energie brauchen: aufstehen, den Haushalt erledigen, sich mit FreundInnen treffen oder arbeiten. Wenn eine chronisch kranke Person all ihre Löffel verbraucht, ist sie energielos und oft ans Bett gezwungen. Deshalb muss sie sich gut überlegen, wann wie viele Löffel, wie viele Energieressourcen verbraucht werden. Meine Löffel sind oft verbraucht, wenn noch Pläne, Termine oder Fristen übrig sind. Dann sehe ich mich mit folgenden Fragen konfrontiert: Kann ich den Ausflug ins Graubünden am Wochenende wagen, auch wenn ich nächste Woche wichtige Termine habe? Schaffe ich meine Masterarbeit oder die nächste berufliche Herausforderung? Bis heute variieren die Antworten auf diese Fragen von Woche zu Woche, von Schmerzphase zu Schmerzphase. Das Einhalten von Terminen und Fristen ist oft schwierig. Ich versuche meine Zeit und Energie gut einzuplanen und darin viele Fenster für Erholung zu schaffen. Es ist möglich, einen Tag mit starken Kopfschmerzen zu arbeiten, wenn es nicht anders geht. Danach braucht es jedoch dementsprechend Zeit, wieder Kräfte zu sammeln. Wichtige Ressourcen für mich sind mein mich immer unterstützendes Umfeld, Spaziergänge in der Natur, das Malen oder das Kochen. Ich habe gelernt, Hilfe anzunehmen, denn alleine kann ich diese geballte Ladung an Schmerz nicht bewältigen. Neben vielen schwierigen Momenten hat mir die Schmerzbewältigung auch eine grosse Freude gebracht: die Maltherapie, aus der mein Kunstprojekt «Vulveria» entstanden ist.
Was ich mir von euch im Umgang mit chronisch kranken Personen wünsche
In den Jahren mit chronischen Schmerzen habe ich gelernt, dass es für Menschen in meinem Umfeld schwierig sein kann, mit meinem Leiden umzugehen. Ich habe dafür grosses Verständnis und möchte diese Gelegenheit nutzen, um meine Wünsche im Umgang mit chronisch kranken Menschen anzubringen. Diese gründen auf meiner persönlichen Meinung und auf dem Austausch mit anderen Betroffenen. Zuerst finde ich es wichtig, zu verstehen, dass viele Schmerzen unsichtbar sind. Ich kann bei starken Schmerzen gänzlich normal wirken, selbst wenn jeder Schritt anstrengend ist. Auch wenn Schmerzen unsichtbar sind, sind sie nicht weniger real für die Person, die darunter leidet. Ich wünsche mir in diesen Situationen Empathie und Verständnis, was ich sehr oft auch bekomme. Zudem wünsche ich mir weniger unerbetene Ratschläge. Eine chronisch erkrankte Person ist der/die ExpertIn der eigenen Krankheit, denn sie lebt ständig damit. Tipps vom Gegenüber kommen bestimmt von Herzen und aus dem Drang zu helfen. Es kann jedoch anstrengend sein, wenn jemand zum hundertsten Mal vorschlägt, du solltest doch mehr Wasser trinken, das helfe gegen Kopfweh. Wir können darauf vertrauen, dass die chronisch kranke Person selbst Rat sucht, wenn sie diesen braucht. Ich finde es zudem wichtig, Grenzen einer erkrankten Person zu akzeptieren, dies vor allem in Bezug auf Informationen über ihre Krankheit. Es kann sehr aufwühlend sein, über die Ursachen seiner Erkrankung ausgefragt zu werden, vor allem wenn diese oft (noch) nicht bekannt sind. Ich wünsche mir auf der gesellschaftlichen Ebene mehr Verständnis und weniger Leistungsdruck. Schliesslich wünsche ich mir Teilhabe und Zugehörigkeit. Hören wir chronisch kranken Menschen zu. Bieten wir Ihnen Unterstützung an. Zeigen wir Verständnis. Binden wir sie in unsere Pläne ein, auch wenn sie drei- von fünfmal absagen müssen.
«Die Lendenwirbel-Arthrose hatte
zugeschlagen»
Eine Magnetresonanztomographie, kurz MRT, im Inselspital brachte es 2010 an den Tag: Spinalkanalverengung und Lendenwirbel-Arthrose im fortgeschrittenen Stadium. Die Vorgeschichte bis zu diesem Zeitpunkt würde alleine eine Seite im UND füllen.
Da ich ausser sehr unangenehmem Kribbeln in Füssen und Beinen keine Schmerzen hatte, wollte ich natürlich nicht operieren. Ich war weiterhin zu Fuss und mit dem Fahrrad unterwegs. Dass ich keine Schmerzen hatte, führe ich darauf zurück, dass ich jahrelang jeden Morgen, bevor ich zur Arbeit fuhr, muskelstärkende Gymnastikübungen machte.
Drei Jahre später passierte es. Eines Morgens konnte ich urplötzlich nur mit äusserster Mühe unter starken Schmerzen aufstehen: die Lendenwirbel-Arthrose hatte zugeschlagen.
Operationen und Dauerschmerzen
Der Hausarzt verschrieb mir starke Schmerzmittel und überwies mich erneut ins Inselspital, wo eine neue MRT zutage brachte, dass nach Ansicht des Chirurgen eine Operation unumgänglich wurde. Da ich extrem an meinen Schmerzen litt, stimmte ich einer OP zu. Im Mai 2013 wurde ich operiert, nachdem ich vorgängig über alle Risiken informiert wurde: 25 Prozent aller Operierten leiden weiterhin an Schmerzen, zum Teil mit geschwächten Beinen. Eine spätere Operation muss häufig in Betracht gezogen werden. Leider gehörte ich nun zu diesen 25 Prozent. Mehrere gezielte Infiltrationen mit Cortison halfen nur kurzzeitig. Ich musste mich mit den Schmerzen arrangieren. Mit positivem Denken, starken Medikamenten und täglich physiotherapeutischen Übungen führte ich aber weiterhin ein lebenswertes Leben bis im Herbst 2019. Die dauernden Schmerzen wurden plötzlich wieder unerträglich. Ich konnte nur noch mit grosser Mühe gehen. Die Schmerztabletten hatten keine grosse Wirkung mehr. Ich entschloss mich zur zweiten Operation. Schlimmer könne es nicht werden, war ich überzeugt. Zudem habe ich glücklicherweise grundsätzlich eine positive Einstellung zum Leben. Und mit Humor wird auch vieles erträglicher.
Vier Wochen Reha mit schlechter Diagnose
Ich weilte im November 2019 nach der zweiten OP für vier Wochen in der Reha Schönberg ob Gunten. Schon hier zeigte sich aber, dass die Schmerzen nicht weniger wurden. Das starke Kribbeln, verbunden mit heftigen Schmerzen, kehrte zurück. Der leitende Arzt in der Reha Schönberg entliess mich mit der niederschmetternden Diagnose, ich müsse weiterhin mit starken Schmerzen leben. Die geschwächten Füsse und Beine, insbesondere das linke, würden sich vermutlich nie mehr erholen.
Schmerzzentrum und Rheumatologie
Ich konnte mich mit der Situation nur schlecht abfinden. Mein Chirurg meldete mich im Herbst 2020 im Schmerzzentrum des Inselspitals an. Gedacht war an eine Verödung eines Nervs, um damit die Verbindung zum Schmerzzentrum im Gehirn zu kappen. Für die Ärzte im Schmerzzentrum kam das allerdings nicht in Betracht. Sie versuchten wieder mit Cortison-Spritzen meinen Zustand zu verbessern, was nicht half. Zwei Wochen stationär auf der Rheumatologie des Inselspitals mit erneuten Untersuchungen und einer MRT führten abschliessend zu der Aussage der leitenden Ärztin: «Ihr Rücken ist so stark in Mitleidenschaft gezogen, dass eine erneute OP zu gefährlich ist. Wir können leider nicht mehr für Sie tun, als starke Schmerzmittel und weiterhin Physiotherapie zu verschreiben.»
Ich mache das Beste daraus
Die andauernden Schmerzen machen mir das Leben manchmal schon schwer. Besonders während der Nacht erwache ich immer wieder mit zum Teil heftigen Schmerzen. Zudem fühlen sich das rechte Bein und die Füsse dann bis zum Knie hinauf wie taub und wattig an. Beim Aufstehen macht das Gehen immer zuerst Mühe. Ich bin dann unsicher und wackelig auf den Beinen. Es gibt schon die Momente, wo einem alles verleidet. Vor allem dann, wenn der Rücken und die Beine nicht nur nachts, sondern auch tagsüber ununterbrochen schmerzen. Oder wenn ich am Tag auf der Couch einschlafe, weil ich nachts mehr schlecht als recht schlafen konnte, und nach dem Schlafen wieder mit Schmerzen erwache. Längeres Liegen, aber auch das Gehen mit Stöcken ist leider meistens mit Problemen verbunden. Ohne Medikamente, tägliche Physiotherapie, Entspannungs- und meditative Übungen geht es nicht mehr. In einer Gruppe mit Schmerzpatienten lernte ich viel, wie ich mit meinem Problem umgehen kann. Ich gehe auch weiterhin im Gospelchor Schönau singen, mache bei UND Generationentandem mit, höre gerne Musik und lese viel. Jetzt auch wieder berndeutsche Geschichten in zwei Altersheimen. Sich nicht unterkriegen lassen und den Humor behalten. Das ist nicht immer einfach, aber es hilft und macht das Leben trotzdem lebenswert.