Eine Runde im Kehrtunnel
Das Thema kommt zur rechten Zeit. Ich fühle mich in einer heftigen Alterskrise. Im Vordergrund steht die Gesundheit. Bei der Untersuchung im Rückenzentrum wurde klar, dass es sich da nicht um ein Problem handelt, das behandelt und behoben werden kann, sondern um einen Zustand, den das Alter mit sich bringt und der nicht besser wird. Gleichzeitig ist mein Blutdruck unberechenbar geworden.Manchmal sehr hoch, zunehmend aber auch sehr tief. Meine Stimme versagt oft. Meine Aufmerksamkeit lässt nach. Bisher staunte man oft, wie gut ich im Alter noch daherkomme. Das ändert sich allmählich. Die Rolle des Greises liegt mir nicht. Und doch ist es nur eine Frage der Zeit,bis ich sie spielen muss. Das tut weh. Das Weltgeschehen trägt auch einiges zur Last bei. Ökologisch droht die Katastrophe. Die Demokratie läuft oft ins Leere. Sinnlose Kriege nehmen kein Ende.
Was trägt mich in dieser Situation? Die äusseren Umstände sind gut. Da ist vor allem Dora, meine Frau, die mit völliger Zuverlässigkeit für mich da ist, wenn ich Hilfe brauche. Dann das ganze Umfeld:Freunde, denen ich mich anvertrauen kann, die Alten und Jungen vom UND Generationentandem, überhaupt alle Menschen, die meine Infrastruktur gewährleisten, indem sie täglich zur Arbeit gehen. Mit der äusseren Situation komme ich meist zurecht. Zu schaffen machen mir innere Prozesse. Wenn ich an der Welt verzweifle. Oder auch an mir. Wenn ich kraftlos bin, wenn Schmerzen an meiner inneren Einstellung knabbern. Was trägt mich von innen? Sicher einmal die Erfahrung, dass eine Krise mich weiterführt. Das erlebte ich öfters. Ich gehe ins Dunkel, mache eine Runde im Kehrtunnel und ich komme wieder hinaus, eine Stufe höher. Davon bin ich inzwischen aus Erfahrung überzeugt. Vor ein paar Jahren spürte ich eine Krise kommen und freute mich gleich auf den Ausgang.
Was mich auch trägt, ist das Bewusstsein, innerlich geführt zu sein. Bei der Sonnenblume ist es sicher, dass aus dem Kern keine Rose wird. Der Weg ist vorgezeichnet. Wind und Regen fordern die Blume heraus und prägen die Form mit. Ähnlich stelle ich es mir auch bei mir vor. Es ist ein Weg vorgezeichnet, so zu werden, wie ich gemeint bin. Wenn ich abweiche, kommt eine Krise und fordert Korrektur. In diesem Sinn sehe ich das Leben als eine Aufgabe: dem inneren Faden zu folgen. Ob das auch in dieser Alterskrise trägt? Bisherige Erfahrungen werden mir eine Hilfe sein.
Den Blick aufs Mögliche richten
Schwierige, belastende Phasen und Krisen gab es in meinem Leben einige. Seit vier Jahren lebe ich mit chronischen Schmerzen im Hals- und im rechten Schulterbereich. Meine Aufgabe ist es, immer wieder das richtige Mass zwischen Aktivität und Ruhe zu finden, was mir nicht leichtfällt. Früher baute ich als Bewegungsmensch Stress mit Sport ab, heute sind aber weder lange Bergwanderungen noch Ski-oder Bike-touren möglich.
Die Natur ist die grösste Quelle für mein Wohlbefinden. Wenn ich gemütlich spaziere oder wandere und dabei so viel Wunderbares sehe, lasse ich mich von Schmerzen und Alltagssorgen ablenken und geniesse Vogelgezwitscher, den Wind und die wunderbaren Bilder, die nur die Natur bieten kann. Mit Qigong und Tai-Chi versuche ich beweglich zu bleiben und abzuschalten. Als Leseratte brauche ich immer ein Buch, um mich in eine andere Welt vertiefen zu können und alles um mich herum zu vergessen. Oft habe ich eines im Rucksack, wenn ich wandere.
So kann ich während einer Pause auf einer Wiese liegend lesen und ausruhen. Meine Tochter bringt mir viel Verständnis entgegen, wir haben ein inniges Verhältnis und sind für einander da. Auch mit meinen beiden Schwestern verbringe ich viel Zeit. Habe ich früher gerne Anderen geholfen, lerne ich selbst Hilfe anzunehmen. Gerne unterhalte ich mich mit mir nahestehenden Menschen, bei welchen das Gespräch in die Tiefe gehen kann. So erhalte ich eine Rückmeldung, die bei anstehenden Entscheidungen helfen kann. Je älter ich werde, umso mehr schätze ich den Umgang mit Familie oder FreundInnen. Ja, im Austausch mit Menschen zu sein, ist für mich zum Zauberwort geworden.
Da ich nicht mehr Geige spielen kann, singe ich häufiger, was mir Freude macht und gut tut. Ein neues Instrument zu erlernen, ist deshalb ein Projekt für später. Auch gehe ich gerne in ein klassisches Konzert. Neben der Freizeit gibt es da ja auch noch die Arbeit. Ich arbeite als medizinische Praxisassistentin mit reduziertem Pensum in einem Spital. Die Berufsarbeit und somit auch der Kontakt zu KollegInnen sind wichtig für mich – deshalb schätze ich mich glücklich, diese Stelle gefunden zu haben.
Mittlerweile wissen meine Vorgesetzten um meine gesundheitlichen Einschränkungen und haben so Verständnis, wenn ich einmal nicht gleich viel leisten kann wie gewohnt. Hilfe in therapeutischer und beratender Hinsicht nehme ich bei Bedarf an und sie ist für mich unerlässlich geworden. Ich habe schon verschiedene Therapien gemacht und bin offen für fast alles, was Erleichterung bringen kann. Den Blick auf meine Möglichkeiten zu richten und nicht auf das nicht mehr Machbare, unterstützt meinen Wunsch nach einer positiven Lebenseinstellung. Ich will das Glas halb voll sehen, auch fröhlich sein und lachen können. So gebe ich die Hoffnung auf Linderung oder Heilung nie auf. Mein Glaube hilft mir, wenn mich die Melancholie erfasst,wenn ein berufliches oder familiäres Problem mich niederdrückt. Aus Erfahrung weiss ich, dass jede schwierige Zeit irgendwann ein Ende hat.
Familie, FreundInnen und Kater Brumm
«Ich krieg gleich eine Krise!»– Ein Satz, welcher zu oft unpassend verwendet wird, meistens ist er übertrieben und es steckt nicht viel dahinter. Ein stressiger Tag, ein Freund, der nervt, oder der Computer, welcher wieder einmal aussteigt im ungünstigsten Moment. Auch ich habe mich schon auf diese Weise geäussert in ähnlichen Situationen. Jedoch stand ich in meinen fünfundzwanzig Jahren auf dieser Welt immer wieder echt schwierigen Situationen gegenüber. Nun möchte ich aber nicht mit Liebeskummer, Adoleszentenkrise und weiterem kommen, sondern eher der Frage nachgehen,wie ich generell schwierige Zeiten durchgestanden habe und wer an meiner Seite war. Was hat mir Zuversicht gespendet in steinigen, unangenehmen und aussichtslosen Zeiten?
Als überaus aktive Persönlichkeit mit vielen Interessen fuhr ich meine Krallen aus, wenn mir Dinge wie Meditation und Atemtherapie empfohlen wurden. Als Kind fand ich meinen Ausgleich draussen in der Natur, in der Nähe zu Tieren und Pflanzen. Geborgen fühlte ich mich bei Wind und Wetter auf dem Balkon, im Zelt, wenn der Regen auf den Stoff prasselte oder die Sonne meine herausgestreckten Füsse wärmte. Auch die Stille des Schnees beruhigt mich bis heute. Im Winter schlendere ich abends alleine durch den Rosengarten und geniesse die Aussicht auf die verschneite, stille Stadt. Bald kam die Pubertät, die Zeit wurde nicht einfacher. Ich durfte früh schon Klavierunterricht besuchen und konnte meine Gefühle in Musik ausdrücken, meine Gedanken in Texte verwandeln.
Jeden Abend hörte ich vor dem Einschlafen Musik – etwas, was mich bis heute begleitet. Zu jeder Lebenslage habe ich einen passenden Song bereit und kann damit jeweils runterfahren. Sei es, dabei zu weinen, zu tanzen oder einfach nur da zu liegen. Ich habe schnell gelernt, dass ich für mein Wohlbefinden mehrheitlich selbst verantwortlich bin und versuchte in schwierigen Zeiten selber Lösungen zu finden. Doch es kommt meist ein Punkt, an welchem Hilfe nötig wird. Besonders dann,wenn die aufgebauten Bewältigungsstrategien nichts mehr nützen und man beginnt, sich im Kreis zu bewegen. Da kann eine negative Abwärtsspirale entstehen
Ich kann glücklicherweise von mir behaupten, immer meine Familie an meiner Seite zu haben, auf welche ich mich verlassen kann. Mit meinen grossen Geschwistern kann ich tiefe Gespräche führen und mich austauschen, dasselbe gilt für meine beiden Eltern. Zudem lebe ich in einer Wohngemeinschaft und führe dort innige Freundschaften. Sie sind besonders intensiv, da wir viel zusammen erlebt und durchgestanden haben. Meine Mitbewohnerin kann mir meine Gedanken vom Gesicht ablesen. Es folgt dann eine gemeinsame Rauchpause in der Küche, und alle Sorgen werden detailliert ausgetauscht. Zudem muss unser Kater Brumm erwähnt werden. Er ist meistens da, hört mir immer zu und kommt mir nicht mit ungefragten Ratschlägen. Ich habe sicherlich noch viel zu lernen in meinem Leben, zum Beispiel, dass auch Meditation einen Versuch wert sein kann und vielleicht ja doch helfen könnte.
Eine sehr gute und wichtige Frage: Was trägt mich? Jenseits von oberflächlich-banalen Medieninhalten und dem üblichen und aufoktroierten Gelderwerbszwang mit Werbeberieselung? Ich finde dazu am ehesten passende Anregungen und Impulse in transzendenten Bereichen und Gefilden.