Jürgen Sahli (65)
«Also, treffen wir uns um 11.30 Uhr bei uns in Hunzi.» Hätte ich mir auch nicht träumen lassen, dass ich bei einer «Prinzessin» so rasch einen Interviewtermin bekommen würde. Mehr noch: Sie will mich sogar in ihrem Paradies im aargauischen Hunzenschwil empfangen. Übersehen kann man das riesige grasgrüne Gebäude an der Autobahn nicht, wo Karin Bertschi (29) seit sieben Jahren eine Müllsammelstelle betreibt. Die Begrüssung ist schon aussergewöhnlich und wird von einem Schild übernommen. «Willkommen im Recycling–Paradies». Eine grossgewachsene, junge Frau begrüsst einen herzlich in der riesigen Halle zwischen Bergen von Abfall der Wohlstandsgesellschaft. Vierspurig rollen die bis unters Dach mit Abfall vollgestopften Autos ins Paradies. Es geht zu wie in einem Bienenhaus. In welchem Paradies wird man schon von der Geschäftsführerin persönlich begrüsst? Es ist keine für den Journalisten gestellte Szene. Anpacken ist für die junge Frau kein Fremdwort.
Vier Sammelstellen mit 23 MitarbeiterInnen
Karin Bertschi liebt den Kontakt zu den Menschen, die bei ihr den Müll loswerden und damit für die Erfolgsgeschichte der Recycling Paradies AG mitverantwortlich sind. «Aus der Aargauer Müll-Prinzessin ist längst die Aargauer Müll-Königin geworden», betitelte kürzlich die «Aargauer Zeitung» eine Story. Tatsächlich gehören zum Unternehmen der Geschwister Bertschi heute vier Betriebe in Hunzenschwil, Muri, Reinach und Spreitenbach mit 23 MitarbeiterInnen. Die SVP Aargau hielt der Sympathieträgerin und Vorzeigefrau sogar einen Platz auf der Nationalratsliste bereit. Die Wahl wäre für die populäre Aargauerin wohl nur noch Formsache gewesen. Sie sagte dankend ab. Familie, Beruf und freiwilliges Engagement sind ihr wichtiger. Vor allem aber hat sie eine Vision. «Ich möchte in der ganzen Schweiz ein Netz von Recycling-Paradiesen aufbauen.» Dass es ihr ernst ist, hat sie Ende Mai bewiesen. Völlig überraschend gab sie ihren Rücktritt aus dem Kantonsparlament bekannt. Sie wolle sich nun ganz auf das Fami-
lienunternehmen Recycling-Paradies konzentrieren. So nebenbei kündigte sie dabei an, dass Abklärungen für einen fünften Standort bereits im Gang seien. Im Internet löste ihr Rücktritt Respekt, aber auch Bedauern aus.
Ihr Grossvater würde sich bestimmt freuen. Bei ihm hatte die kleine Karin den ersten Kontakt zu wiederverwertbarem «Güsel». «Ich half ihm in seinem Betrieb jeweils Papier, Büchsen und Glas in die Sammelbehälter zu leeren», erinnert sie sich. «Zum Lohn gab es Schoggistängeli.» Auch ihre Eltern hatten als Schrotthändler begonnen und sich der Wiederverwertung verschrieben. Ihre Tochter Karin revolutionierte dann mit einem eigenen Unternehmen das Abfallwesen. Statt in stinkenden, schmutzigen und dunklen Hallen können die KundInnen nun im Recycling-Paradies den Abfall im Trockenen und in einer fast schon unanständigen Sauberkeit entsorgen. Und das nicht nur am Mittwoch oder Samstag, sondern während der ganzen Woche.
Ein Familienausflug ins Paradies
Im Recycling-Paradies wird Entsorgen zum Erlebnis. «Viele machen sogar einen Ausflug mit Kind und Kegel zu uns», erzählt die Jungunternehmerin. Ein Kinderparadies und eine umfangreiche Bibliothek mit Gratis-Lesestoff machen den Aufenthalt ganz besonders. Natürlich sind es immer noch mehrheitlich Männer, die vor allem am Samstag das Recycling-Paradies besuchen: «Ich gange no schnell zu de Frau Bertschi.» Die Kundschaft ist gemischt und sehr unterschiedlich. Alle aber haben dasselbe Ziel: Sie wollen etwas loswerden, Ballast abwerfen und Platz machen für Neues. Karin Bertschi stellt fest, dass viele ältere Leute noch sehr an ihrem Zeug hängen und zweifelnd vor der Mulde stehen. «Chan mers ächt nöd nomol bruuche?». «Die Jugendlichen und Jungen trennen sich viel schneller von einst heiss Begehrtem, von lieb gewonnenen und nützlichen Gegenständen», weiss sie aus Erfahrung. Ganz nach der Devise: Weg ist weg!
Das Wiederverwerten von Aluminium- und Weissblechverpackungen, PET-Flaschen, Batterien, Glas sowie Elektro- und Elektronikgeräten reduziert laut Swiss Recycling jedes Jahr die CO2-Emission um
680 000 Tonnen. Das entspricht über 280 Millionen Liter Benzin.
Auch wenn Karin Bertschi vom Abfallgeschäft lebt, sie wünscht sich, dass wir Menschen Abfall möglichst vermeiden. Vor allem ärgert sich die junge Frau darüber, dass Lebensmittel immer noch unnötig mehrfach verpackt zum Verkauf angeboten werden. «Wir KundInnen haben die Macht, das zu verhindern», ist sie überzeugt.