Grautöne auch in der Rechtsprechung!
Werner (82): Paula, vor kurzem haben Jérôme und ich hier bei UND online über die Besetzung des Bundesplatzes durch die Klimabewegung berichtet. Die Besetzung war sicher illegal, aber ich finde, sie war doch berechtigt. Wir müssen diesen Fall nicht wieder aufrollen, aber die dahinterliegende Frage scheint mir grundlegend: Gibt es in der Rechtsprechung Grautöne? Sind die Gesetze nicht völlig klar? Wie siehst du das als Rechtsstudentin?
Paula (22): Gesetzestexte sind meist alles andere als klar. Um sie richtig anzuwenden, darf nicht nur auf den vermeintlich eindeutigen Wortlaut abgestellt werden. Vielmehr sind auch Sinn und Zweck, die systematische Einordnung und der Entstehungsprozess einer Gesetzesnorm zu berücksichtigen.
Auch die Abgrenzung zwischen den verschiedenen Gesetzesnormen ist nicht immer klar definiert. So unterscheiden sich Mord und vorsätzliche Tötung dadurch, dass der/die TäterIn bei einem Mord besonders skrupellos vorgeht. Was konkret als skrupellos gilt, wird vom Gesetz nicht abschliessend geregelt, sondern ergibt sich vielmehr aus der Rechtsprechung und den unterschiedlichen Lehrmeinungen.
Recht wird zudem immer auf das alltägliche Leben, auf den Einzelfall angewendet. Dabei müssen zahlreiche Faktoren berücksichtigt werden. Deshalb hat praktisch jeder Entscheid seinen eigenen spezifischen Grauton.
Werner: Mir ist es völlig klar, dass ein Gesetz, das ja für alle gilt, im einzelnen Fall auf die Situation angewendet werden muss. Es kann ja nicht alle Situationen abdecken. Dafür haben wir die Richterinnen und Richter. Das ist genau ihre Aufgabe. Noch mehr Grau entsteht, wenn sich die Richter selber nicht einig sind. Oft stimmen ja drei dafür und zwei dagegen.
Ein weiteres Kapitel im grauen Bild ist die verklausulierte juristische Sprache. Denkst du, das wäre nicht zu ändern, so dass alle sie verstehen können?
Die juristische Sprache – nichts für den Hausgebrauch
Paula: Gesetzestexte könnten auf jeden Fall in einer alltagstauglicheren Sprache verfasst werden, wodurch sie leichter verständlich wären. Dies hätte aber den Nachteil, dass sie dadurch ungenau würden. Recht lebt davon, dass wir einen Begriff definieren und ihn konsequent so verwenden, wie es seine Definition vorgibt. Durch diese Ungenauigkeit würden zwangsläufig neue Grauzonen entstehen. Dies würde also zu mehr Unsicherheit führen und wäre somit eher kontraproduktiv.
Aber nicht immer ist zusätzliches Hintergrundwissen nötig. Gerade im Alltag verhalten wir uns oft ganz intuitiv rechtskonform. Sollten wir uns vielleicht öfter auf unsere Intuition verlassen, anstatt uns in Bücher zu vertiefen?
Werner: Ich hatte vor vielen Jahren einmal Gelegenheit, in solchen Fragen Erfahrungen zu sammeln. Wir hatten daheim einen Tamilen versteckt, der unserer Ansicht nach zu Unrecht ausgeschafft werden sollte. Es schien mir sehr fraglich, ob wir den Prozess gewinnen würden. Immerhin war mein Handeln illegal. Schliesslich wurden wir freigesprochen mit der Begründung, es handle sich um einen Notstand, um Gefährdung von Leib und Leben. Vielleicht kennst du diesen Artikel. Jedenfalls scheint sogar das Gesetz selber Grautöne zu formulieren: ein Gesetz, das es erlaubt, illegal zu handeln.
Paula: Es gibt einige vom Gesetz vorgesehene Rechtfertigungsgründe, darunter auch die Notwehr. Die Handlung ist nicht mehr strafbar, sobald ein Rechtfertigungsgrund vorliegt.
«Wer angegriffen wird, darf sich oder eine andere an Leib und Leben bedrohte Person auf angemessene Art und Weise verteidigen. In solchen Situationen muss Recht Unrecht nicht weichen.»
Paula Grandjean
Werner: Zu den unterschiedlichen Strafmassen fällt mir noch ein weiterer Anwendungsbereich ein, der sogenannte Mundraub. In vielen Kulturen heisst es: Wer hungert, darf Lebensmittel stehlen. Das kann ein einzelner Mensch sein, der auf dem Markt einen Apfel klaut. Es kommt aber auch vor, dass in Hungersituationen Supermärkte geplündert werden. Für mich wäre das völlig in Ordnung: Leben geht vor Besitz. Was sagt das Schweizer Recht dazu?
Paula: Auch wir kannten früher den Mundraub. Heute gibt es diesen Tatbestand aber nicht mehr. Nach heutigem Recht wird eine solche Tat als Diebstahl bestraft. Je nach Situation könnte aber wohl wiederum der Notstand als Rechtfertigung geltend gemacht werden, wodurch der Diebstahl rechtmässig oder zumindest milder bestraft würde. Wie sich zeigt, ist Recht nicht immer so schwarz-weiss, wie es auf den ersten Blick scheint. Genau wie das Leben selbst, ist es facettenreich, vielfältig und komplex. ☐