Vor unserem Gespräch schreibt mir die 17-Jährige: «Mein Leben ist zu kurz für alle meine Interessen!» Fast etwas zaghaft, vor allem aber mit grossen Erwartungen treffe ich mich daraufhin mit Darleen Pfister (17). Wo gilt es anzusetzen, was herauszustreichen? Ein Porträt, gemalt mit wenigen Strichen, würde der jungen Frau nicht gerecht. Ich denke an unser erstes Zusammentreffen am Eingang des Generationenfestivals 2019. Wie damals kurble ich zum Einstieg am Glücksrad und schaue, bei welchem Thema es stehen bleibt.
Familie, Freizeitfreuden, Schule
Die Familie – Vater, Mutter, die einige Jahre jüngere Schwester, eine Katze und seit zwei Jahren ein Hund – wohnt seit jeher in Hilterfingen. Mittlerweile liegt ihr Zuhause zwei Minuten vom See entfernt. Es ist eine Wassersport-Familie: Schwimmen, standup paddling, kajakfahren gehören dazu. Auch vor unserem Gespräch ist Darleen im See geschwommen.
Einmal in der Woche aber ist Reiten angesagt. Die jüngere Schwester teilt Darleens Leidenschaft. Die Eltern jedoch sind keine Reiter, bis… Darleens Augen leuchten, als sie von den schönsten aller Familienferien erzählt: Strandreiten in den Niederlanden, und zwar für alle vier! Die Eltern nahmen heimlich Reitstunden, um dieses Erlebnis als Familie teilen zu können. Sie wussten, wie viel Darleen Pferdesport und Holland bedeuten und schenkten ihr diese Ferienwoche zur Konfirmation.
Darleen berichtet voller Respekt und Dankbarkeit über Kinder- und erste Jugendjahre: liebevolle Unterstützung bei allem habe sie zuhause bekommen. Sie wisse aber, dass sie, wenn sie etwas wirklich wolle, selbst die Zügel in die Hand nehmen müsse. Das verhelfe ihr zu Sicherheit und Vertrauen. So organisierte sie bereits viele ihrer Abenteuer kurzerhand selbst. Bedenkenträgerei und Aufschieberitis gehören nicht in ihr Repertoire: «Einfach machen!» lautet ihre Devise. So verbrachte sie eben ein Semester am Gymnasium in Neuchâtel. Ihre dortigen Zeugnisnoten nimmt sie nun mit nach Thun, wo sie nach den Sommerferien die letzten zwei Jahre bis zur Matura wiederum auf Deutsch zur Schule gehen wird.
«Pause» in Neuchâtel
Ein einjähriger Wechsel in die italienische Schweiz ist am Gymnasium Thun eingeführt. «Wieso also soll ein halbjähriger Aufenthalt in der Westschweiz nicht genauso gut gehen?» fragte sich Darleen und fing kurzerhand mit Organisieren an. Schliesslich realisierte ein deutsch-französisches Zusammenspiel zweier Gymnasien ein grossartiges Halbjahr: neue Umgebung, neues Daheim, neue Klasse, andere Kultur und – sehr wichtig – viel Zeit für sich allein. Familie und Freundinnen kamen zu Besuch, Wochenenden zu Hause waren selten. Darleen hatte «Pause» vom Thuner Alltag. Sie schaute von aussen auf ihre Familie, auf ihre Schule, genoss die grössere Unabhängigkeit und übte mit Erfolg das Alleinsein.
Der Anschluss in der Klasse gestaltete sich schwierig, dafür war die Gastfamilie ein Volltreffer. Mit ihr feierte sie dann auch den Abschluss der Auszeit, ass Paëlla und trank ungefilterten Wein.
Wo macht sie die berühmten kulturellen Unterschiede fest? «Eine ganz andere Fehlerkultur», findet Darleen und macht ein Beispiel aus der Schule: Da kann es gut vorkommen, dass auch nach ausführlichen Erklärungen, jemand aus der Klasse zu bekennen wagt, er oder sie habe schon das Grundprinzip gar nicht verstanden. So etwas habe sie in Thun bisher nie erlebt. Überhaupt stelle sie eine grössere Toleranz gegenüber anderen Menschen oder anderen Ausdrucksformen fest. Fast alle Mädchen laufen gemäss Darleen bauchfrei rum, tragen auch mal superkurze Röckchen. In Thun urteile man da schneller und strenger. «Leben und leben lassen.» Das gefällt Darleen, denn es gibt ja noch so viel anderes auf der Welt.
Mit Volldampf in die Zukunft
Wer glaubt, Darleen brauche in den aktuellen Sommerferien Pause von der «Pause», täuscht sich gewaltig. Noch zwei Jahre bis zur Matura – und dann? Einst schwärmte Darleen für die Gastronomie. Ein kleines Lokal, schön eingerichtet, mit erlesenen Speisen, Kuchen, Kaffee, gemütlich, so wie sie es in Holland kennengelernt hat. Sie machte ein Praktikum in einem Hotel und sah, dass sie zwar gut mit Menschen in Kontakt kommt, die Arbeit sieht und anpacken kann, dass dieses Feld für sie jedoch nicht weit genug ist.
Politik dagegen wird wohl ihr Zukunftsding sein. Sei es als Politikerin, als Diplomatin, als Aktive in einer Partei… so genau weiss sie es noch nicht. «Politik ist wie ‹Alles›: Man kann etwas bewegen, mit Aktionen neue Erkenntnisse gewinnen und mittendrin sein.» Nach dem eben beendeten hochspannenden Praktikum bei Avenir Suisse in Zürich (diesen Platz organisierte sie sich auch selbstständig), weiss sie, dass ihr forschen, entwickeln, beraten und die anschliessende Umsetzung wichtig sind.
Viele Richtungen stehen offen. Darleen ist neugierig, interessiert sich für vieles. Und dann kommt wieder so ein Satz: «Du musst wirklich leben, als ob du morgen sterben müsstest. Nichts aufschieben, MACHEN!» Danach ein kleines Innehalten – für einen kurzen Augenblick entsteht der Eindruck, dass selbst ihr der ihr eigene «vielfältige private Aktivismus» (wie sie selbst sagt) nicht ganz geheuer ist.
Vorbilder?
Sie nennt in den obligaten vier Fragen Kristina Lunz. Ist die Aktivistin und Mitbegründerin des Center for feminist foreign policy ein Vorbild für sie? «Ich bin nicht abhängig von Vorbildern, doch diese Frau hat mir Eindruck gemacht, weil sie sich einen eigenen Beruf geschaffen hat. Vielleicht ist sie eher Inspiration als Vorbild.»
Kristina Lunz hat sich mit viel innerem Feuer und Engagement einer Sache verschrieben. Das gefällt Darleen, denn sie findet es schwierig, für sich einen fest umrissenen Beruf auszuwählen. Auch sie wird sich wohl ein eigenes Tätigkeitsfeld schaffen. Dass ihr dies gelingen wird, ist sie überzeugt, denn sie glaubt, mit ihrem inneren Feuer da anzukommen, wo sie hinwill.
Ihr aktuelles Thema
Stimmrechtsalter 16. Dazu hat sie sich mit Claude Longchamp unterhalten: «Unterschätzte Jugend». (Klar, dass sie sich vorher nicht lange gefragt hat, ob so ein Gespräch überhaupt möglich sein könnte: Sie hat einfach eine Mail geschrieben. Auch hier: einfach machen!)
«Die Meinung der Jungen ist etwas wert. Die Jungen funktionieren ganz anders.» Mehr Mitsprachemöglichkeiten für Junge, aber auch Übernahme von mehr Verantwortung durch die Jungen. In diese Richtung geht Darleens Reise. Sie möchte selbst ein Vorbild sein, aufzeigen, dass sich engagieren lohnt. Denn viel mehr Menschen in ihrem Alter sollten sich für gesellschaftliche Themen interessieren, Gestaltungsmöglichkeiten aktiver wahrnehmen und gar ausweiten. Dafür schwebt ihr ein Botschafterprogramm vor. Sie erschrickt, angesichts der oft passiven Haltung ihrer Altersgenossen, und kann meckern und verharren in unbefriedigenden Situationen nicht nachvollziehen.
Ruhe
In der Natur, beim Sport zu Land und zu Wasser schaltet ihr Kopf etwas ab. Wandern, Reiten, Velofahren sind Bewegungen, die sie liebt. Mitternachtsschwimmern ist besonders erholsam, denn da ist sie ganz bei sich, die Aussenreize sind abgemildert. Da kommt auch für Darleen eine ruhigere Zeit. Zeit fürs Reflektieren, vielleicht Zeit für die weniger grossen, aber oft auch wichtigen Dinge.
4 Fragen an Darleen
Wofür würdest du mitten in der Nacht aufstehen?
Für ein Mitternachtsschwimmen im See oder im Meer
Welche wichtige Person/Persönlichkeit möchtest du einmal treffen?
Kristina Lunz
Wieso machst du bei UND mit?
Weil ich die Geschichten vieler neuer Menschen kennenlerne, damit Zugang zu spannenden Persönlichkeiten und Orten bekomme und ganz viel über die Welt lerne.
Was bringt dich auf die Palme?
Getunte Autos und klima-ignorante Menschen