Text: Saba Fäh (19), Annemarie Voss (76)
Illustrationen: Lisa Essig (23)
Annemarie: Meine Erziehung verlief sicher anders als deine. Meine Eltern – und teilweise auch Lehrpersonen – waren damals der Meinung, dass ein «Chlapf» zur rechten Zeit niemandem schade, ganz im Gegenteil. Und sicher schadete es nicht immer, aber die Angst vor der Prügelstrafe war schlimm. So wollte ich als Kind niemals Verfehlungen zugeben, weil ich mich vor den Schlägen fürchtete. Lügen war dann oft die Folge davon.
Saba, bist du streng erzogen worden?
Saba: Nein, überhaupt nicht, ich wurde nie geschlagen. Ich musste höchstens ins Zimmer gehen oder, wenn es ganz schlimm war, ohne Nachtessen ins Bett. Schon als Kind durfte ich viel mitbestimmen, beispielsweise wohin ich in die Ferien wollte. Vielleicht lag das daran, dass ich nur mit meiner Mutter aufwuchs.
Annemarie: Mitbestimmung war für mich absolut undenkbar, in jeder Beziehung. Das Wichtigste war gehorchen zu lernen. Oft war das Mitreden nicht erlaubt, wenn sich die Erwachsenen unterhielten. Wünsche, was ich anziehen möchte, oder was und wann ich spielen wollte, wurden nie ernst genommen. Das war aber nicht nur in unserer Familie so.
Saba: Bei meiner Kleiderwahl war ich schon immer sehr eigensinnig.Auch wenn meine Mutter mir eine Frisur nach ihrem Geschmack machen wollte, weigerte ich mich permanent. Dass die Eltern den Kindern die Kleidung vorschreiben, kenne ich jedoch von meinem damaligen Umfeld auch noch sehr gut. Das Schlimmste war für die Eltern, wenn die Kinder Kleidung anziehen wollten, welche nicht dem Geschlechterbild entsprach.
Annemarie: Es gab auch früher schon Familien, in denen nicht geschlagen wurde, aber Gehorsam war oberstes Gebot. Das galt nicht nur den Eltern gegenüber, sondern auch den Lehrpersonen, dem Pfarrer und später sogar den Vorgesetzten während der Ausbildung. Das waren alles Respektpersonen. Zum Glück säte mein Vater ein Körnchen Aufmüpfigkeit bei mir, da er seine Zweifel hatte, ob alles immer richtig ist, was Respektpersonen verlangen.
Saba: Ich denke, dass Gehorsam heutzutage immer noch eines der obersten Gebote ist. Es wird einfach anders kommuniziert. Meine BerufsbildnerInnen sind so wie früher meine LehrerInnen höhergestellt als ich, solange ich in der Ausbildung bin. Zwar werde ich nicht geschlagen, wenn ich zu lange an einer Arbeit bin, jedoch muss ich ihre Kritik immer annehmen, ob sie für mich stimmt oder nicht.
Annemarie: Ja, die Strukturen der Hierarchie sind auch heute noch ausschlaggebend. Ich musste zu Hause viel helfen, die Schuhe der ganzen Familie putzen, abtrocknen und bügeln. Auch durfte ich oft erst spielen, wenn ich eine bestimmte Anzahl Reihen gestrickt hatte. Oder ich musste auch nähen lernen.
Saba: Das war bei mir weniger wichtig, da meine Mutter Schneiderin ist. So kann ich immer sie fragen. In der Schule hatten wir jeweils ein halbes Jahr Werken und ein halbes Jahr Handarbeiten. Eigentlich finde ich es schade, dass ich da nicht mehr gelernt habe.
Annemarie: Ich muss allerdings zugeben, dass ich später profitieren konnte von allem, was ich früher gelernt hatte. Aber als Kind fiel bei mir nur ins Gewicht, dass ich kaum Zeit zum Spielen bekam. Worüber ich aber immer wütend wurde, war die ungleiche Behandlung von Mädchen und Knaben. Vieles musste ich, anderes durfte ich nicht – und zwar nur deshalb, weil ich ein Mädchen war. Ich konnte es kaum erwarten erwachsen zu werden und meine Entscheidungen selbst treffen zu können.
Saba: Auch in meiner Kindheit war eine klare Unterscheidung zwischen den Geschlechtern vorhanden. Ungeschriebene Gesetze besagten, dass Mädchen lange Haare tragen, schneller weinen, nur mit Barbies spielen und so fort. Als ich elf Jahre alt war, mochte ich Fussball ziemlich gerne und spielte mit drei anderen Kolleginnen in einer Mannschaft. Die Reaktionen darauf, vor allem die der Jungen, waren sehr kritisch.
Annemarie: Einerseits erstaunt mich das, aber ich realisiere, dass auch heute grosse Unterschiede bestehen bei der Erziehung. Fand deine Mutter etwas besonders schlimm, das du gemacht hast?
Saba: Da fällt mir nichts Bestimmtes ein. Sie hatte auch keine genaue Vorstellung davon, wie ich sein sollte. Was sie nicht mochte war Frechheit.
Annemarie: Meine Eltern fanden Lügen ganz schlimm.
Saba: Lügen musste ich nicht. Ich wusste, dass ich die Wahrheit sagen konnte. Aber ich erzählte gar nie viel von mir.
Annemarie: Ich habe keine Kinder und weiss gar nicht, wie ich sie erzogen hätte. Sicher besteht ein grosser Unterschied, ob man alleinerziehend ist oder sich zu zweit auf eine «Linie» einstellen muss. Der Familienhintergrund, die Herkunft und das Umfeld hatten schon immer grossen Einfluss auf die Erziehung.
Hast du Vorstellungen, wie du mal deine Kinder erziehen möchtest?
Saba: Wenn ich die Möglichkeit habe, will ich meine Kinder nicht zur Schule schicken. Ich möchte ein Umfeld schaffen, wo sie sich frei entfalten und später ihren eigenen Weg gehen können.